Gedichte im Radio
Ein paar Jahre lang durfte ich von Zeit zu Zeit
mit immer drei bis fünf
Kindern
im Studio des Bayerischen Rundfunks über Gedichte sprechen.
Wir
saßen um einen Tisch herum, vor uns Mikrophone,
beobachtet vom Redakteur
und den Technikern,
die unser Gespräch aufzeichneten.
Zunächst aber
bekamen wir das Gedicht zu hören,
gesprochen von einem Mann oder einer
Frau,
die ihre Stimme einem Gedicht liehen,
das meistens ich ausgesucht hatte.
Etwa
eine Dreiviertelstunde dachten wir miteinander nach und versuchten uns zu sagen,
was uns bewegte,
nachdem wir das Gedicht gehört hatten.
Am liebsten waren den Kindern Gedichte,
bei denen es etwas zu rätseln gab.
Einmal
wollten sie sich nicht äußern, weil ihnen Der alte Garten
von Eichendorff zu eindeutig war. „Da gibt’s nichts zu reden!“ Alle Kinder waren sich darin einig, und ich musste einen neuen Studiotermin bestellen und ein
anderes Gedicht suchen.
Sonst aber haben sich die Kinder auf jedes Gedicht, das sie zu hören bekamen,
auch eingelassen.
Sie haben mich oft überrascht mit ihren Äußerungen.
Und sie haben mich Geduld gelehrt:
Kinder verhalten sich im Gespräch anders
als Erwachsene.
Aus einem langen Gespräch mit Zögern, Unsicherheiten, vielen Pausen
und Schleifen
habe ich dann eine Sendung geschnitten, habe das lange, lockere
Gespräch verdichtet,
habe ihm eine Form gegeben, die es zur Sendung
machte.
In zehn Minuten hörte zuerst das Gedicht, dann unser
verdichtetes Gespräch,
und zuletzt noch einmal das Gedicht.
Immer wieder habe ich mir von Menschen, die uns gehört hatten, von einem
kleinen Wunder berichten lassen.
Sie hörten das Gedicht und dachten: “Das
versteh ich nicht!
Wie sollen die Kinder damit zurechtkommen?“
Dann staunten
sie über die Äußerungen der Kinder.
Und wenn sie das Gedicht am Ende noch einmal hörten,
sprach es zu ihnen.
Es war nicht mehr
wichtig, ob und wie sie es verstanden.
Sie hörten es unmittelbar. - Wie
konnte das geschehen?
Die Unbefangenheit der Kinder gegenüber dem
Gedicht hatte sie angesteckt, hatte sie ermutigt, das Gedicht
selbst sprechen zu lassen und ihm zuzuhören.
Die Mehrzahl dieser Gedichte und Gespräche habe ich 1992 in einem Buch
versammelt,
ergänzt um Ideen, wie man sich dem einzelnen Gedicht in der Schule nähern
kann,
ohne es durch Gerede zu überwältigen oder durch Zerpflücken
zu beschädigen:
Versteh mich nicht so schnell –
Gedichte lesen mit Kindern.
Zu jedem Gedicht gibt es immer einen Lesetext über den Dichter, die Dichterin,
der sagt:
„Schau, sie war, er war auch einmal ein Kind und hat später
Gedichte geschrieben,
die nun für uns alle da sind.
Sie warten auch auf dich!“
Ergänzt wird das immer um weitere Werkproben.
Für
die Taschenbuchausgabe (1999)
habe ich ein Nachwort verfasst:
Rettet die Poesie!
Darin versuche ich zu begründen,
wie man als Mensch, der Gedichte liebt,
anderen den Zugang dazu eröffnen kann,
ohne sie zu bevormunden,
und habe dieses Konzept in die
Figur des Dreifachen Dialog gefasst.
LINK: Einblick in: Versteh mich nicht so schnell – Gedichte
lesen mit Kindern
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